Buddy Müller #folge18 #WishYouWereHere

Wir lebten New Work schon, als es noch „flexible Arbeitszeitmodelle“ hieß. Und wir hatten bereits Home Office, als anderenorts noch seitenweise Anträge für „Telearbeit an Heimarbeitsplätzen“ ausgefüllt werden mussten.

Wir Agenturmenschen, die meisten jedenfalls, also, ich auf alle Fälle; ich liebe das Agenturleben genau deswegen: diese Freiheit, dieser Mut, diese Geschwindigkeit. Wir können Ideen und Lösungen ausprobieren, während andere – aus Gründen – lange überlegen müssen. Home Office – für uns seit langem kein Traum, sondern Gewohnheit. Fester Bestandteil des Berufsalltags.

Nur: Wer hätte je gedacht, dass ein Nanometer großes Lebewesen, wenn man es überhaupt so nennen kann, eine Volkswirtschaft in die Knie und alle jene, die können, ins Home Office zwingt? Dass die eigenen vier Wände und deren digitale Ausstattung überlebensnotwendig im Tagesgeschäft werden?

„Endlich erkennst Du meine wahre Bedeutung“, meldete sich Brad MacCloud zu Wort.

Brad Mac Cloud vom Clan der MacCloud ist ein MacBook Air. Genauer: mein MacBook Air, mit dem ich seit seit geraumer Zeit in einer symbiotischen Beziehung verbunden bin.

Home, Heaven and Hell

Drei Wochen Ausgangsbeschränkung hatten die Beziehung noch enger werden lassen.

„Beschwer Dich nicht“, sagte ich, „ich habe Dich stets wertschätzend behandelt.“

„Du sitzt jetzt sogar immer mit gewaschenen Händen an meiner Tastatur“, sagte Brad. „Kannst Du mit dem Brillenputztuch meinen Bildschirm abwischen? Die ‚Blinkis‘ bitte, die kitzeln so schön …“

Ich wollte gerade eines der nach Industriealkoholen riechenden Tücher aus der Einschweißverpackung nesteln, da erklangen im Stream der Vormittagsshow, die Brad für mich als Hintergrund gewählt hatte, Akkorde und Strophen, die ich lange, sehr lange, nicht mehr gehört hatte:

„So, so … you think you can tell
Heaven from Hell
Blue skies from pain…“

Mitten hinein ins Home Office. Das sich mit einem mal so groß wie eine Turnhalle anfühlte, eine Turnhalle, die irgendwo draußen stand, allein, in the middle of nowhere.

Kein Lied hatte jemals besser beschrieben, wie sich das Entfremden von einem guten Freund anfühlt, das Wissen um seinen Verlust, ohne ihn aufhalten zu können, bis schließlich nur das Allein sein bleibt. Während Pink Floyds Akkorde aus längst vergangenen Zeiten an Herz und Hirn zupften, spürte ich, wie sehr ich sie vermisste.

Meine Kollegen.

„How I wish, how I wish you were here
We’re just two lost souls
Swimming in a fish bowl
Year after year…“

Hoffentlich dauerte der Ausnahmenzustand keine Jahre.

Oh, ja, ich vermisste sie, die Kollegen, deutlich und in nicht gekanntem Ausmaß. Qwertz, den schusseligen Kreativen; Lila Stiefelchen, die Zahlenjongleurin aus der Buchhaltung; unsere Volontäre Lang und Länger, von denen der eine lang und der andere immer länger arbeitete; sogar Dr. No vermisste ich, die Assistentin unseres EmmDees, dem sie immer Kaffee brachte und mir nicht.

Selbst der EmmDee fehlte mir, der in der Quarantäne froh war, dass seine Gewichtszunahme nicht exponentiell verlief und dass die aschblonde Kurzhaarfrisur noch etwas Zeit für den bald nötigen Friseurbesuch ließ.

Masken, Matten und Motivation

Anfangs, als wir jeder Ansteckungsgefahr auswichen und uns komplett in unsere Home Offices verlagerten, da war alles noch neu, ungewohnt, gerade die Transparenz.

Fast verschämt schalten wir regelmäßig den Videostream aus, freuten uns über die gewonnene Bandbreite und begnügten uns, statt in eine Mindcraft-gepixelte Übertragung in unsere stillstehenden, smarten Profilotos auf Teams zu blicken.

Je länger aber der Büroaufenthalt in den eigenen vier Wänden voranschritt, desto mehr und desto häufiger liefen bei den Videokonferenzen auch die Kameras, rückten uns selbst, die Kunden, die strategischen Partner in die Augen der jeweiligen Betrachter.

Spätestens da war klar, dass die Welt nach Corona eine andere sein würde.

Trotz notwendiger Distanz kamen wir uns näher, als wir es uns jemals gedacht hätten. Wir sahen Wohnzimmer, Küchen, Hobbykeller und Dachkammern, wir blickten in Schlafzimmer, Kinderzimmer, ja sogar über den Rand von Badewannen.

Der Inhalt von Regalen verriet viel über den Literaturgeschmack der Konferenzteilnehmer oder über ihre Ordnungslust beim Sammeln bunter Leitzordner. Von den Decken schaukelten schwedische, toskanische oder japanische Lampen. Während sandkasteneimergroße Teetassen dampften, trollten sich Katzen unwillig von den Tastaturen.

Was noch mehr verband: Dass offensichtlich an allen Enden der Leitungen jenseits der zu bearbeitenden Projekte an gemeinsamen Zielen gearbeitet wurde.

Prallvolle Einkaufstüten stapelten sich auf Küchenzeilen, warteten darauf, dass sie zu den Senioren von nebenan gebracht werden sollten. Videostative und Yogamatten verkündeten, dass bald schon die nächste kostenlose Stunde schlagen würde, um Kolleginnen und Kollegen bei mentaler Stärke und körperlicher Fitness zu halten. Nähmaschinen verharrten im Ruhezustand; sicher, dass die nächste Nachtschicht kommen würde, um Gesichtsmasken zu nähen. Und nie, nie mehr, würde künftig irgendjemand „Mute Dich mal“ einfordern, wenn im Hintergrund Kinderlachen oder Geschrei zu hören war. Allseits verständnisvolles Zunicken zeugten von großem Respekt im Anblick der Doppelbelastung.

Ja, ich vermisste meine Kollegen. Ich hätte Ihnen gerne ins Gesicht gesagt, ohne hunderte von Glasfaserkilometern zwischen uns, wie sehr ich ihr Engagement und ihr Durchhaltevermögen bewunderte.

„Und das von dir, Buddy“, sagte Brad MacCloud und riss mich aus meinen Gedanken. „Die Krise verändert dich.“

„Kann sein“, sagte ich. „Es wird anders sein, für mich und für jeden. Irgendetwas zwischen Horx und Harari.“

„Sorry, bevor wir jetzt diskutieren“, unterbrach mich Brad, „Du musst in Dein nächstes Teammeeting.“

„Ok. Play it again, Sam.“

„Ich heiße Brad. Brad MacCloud vom …“

„Mach einfach. Nachher gibt es eine Brillenputztuch-Massage.“

Während sich pünktlich – auch das war vor Corona anders – ein Teams-Fenster nach dem anderen öffnete, einer nach dem anderen seine Kamera einschaltete, der Bandbreite zum Trotz, während wir uns zuwinkten, lächelten, mit unseren Sinnspruchtassen zuprosteten, während all dessen erklangen Pink Floyds Gitarren in epischer Breite und David Gilmores Stimme in stockwerkfüllender Lautstärke:

„How I wish, how I wish you were here …“

Oh ja. Ich vermisse Euch.


 

Diese Folge ist jenen gewidmet, die im Home Office alles geben, um ihre Agentur, ihr Unternehmen, ihre Familie am Laufen zu halten. Ihre Erfahrungen und Anregungen? Gerne per Mail direkt an Buddy Müller unter buddy.mueller@profilwerkstatt.de

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