„Keiner kann es besser!“

Schlaglichter auf die jüngere Geschichte einer Mediendisziplin, zweiter Teil.
Lesen Sie in Teil 1: Ein ehemaliger Wirtschaftsjournalist schafft sich seine eigene Branche und gleich den führenden Agenturverband dazu. Damit legt er den Grundstein für Content Marketing in Deutschland, Österreich und Schweiz.
Und in Teil 3: Kaum ist Content Marketing etabliert, erobern sich Berater ihren Teil von einem umkämpften Geschäftsfeld. Das hat Folgen für die Zukunft der Branche.

Es ist frisch in London, Ende April 2012. Der Verband der Deutschen Zeitschriftenverleger veranstaltet zusammen mit dem Forum Corporate Publishing eine Tour an die Themse. Knapp ein Dutzend deutscher CP-Agentur-Chefs und deren erste Führungskräfte sind der Einladung gefolgt. Sie besuchen in London Content-Kollegen und blicken hinter die Kulissen

Wer sich am kargen Büffet verpflegt, stellt beim Blick aus den Fenstern fest: Auf Augenhöhe ist eine regennasse Straße. Mehr nicht.

An einem Nachmittag finden sie sich in einem niedrigen Seminarraum im Souterrain ein. Die Luft ist so schal wie der Kaffee; hellgelb getünchte Wände harmonieren mit trockenen Keksen und aufgeweichten Sandwiches. Das richtige Umfeld, um sich leicht übernächtigt in die Stühle zu lümmeln. Doch einige der Zuhörer werden schnell hellwach.

Martin MacConnoll, ehemaliger Financial-Times-Journalist und CEO der UK-Agentur Wardour, referiert über seine Strategie und seine Kunden. Einer Handvoll der deutschen Reisenden, bei weitem nicht allen, wird klar, dass das, was sie hören, ein Neuanfang ist.

Mit dem Begriff Custom Publishing im Gepäck, so der Brite, stoßen seine corporate journalists nur zu Unternehmenssprechern vor, und diese fokussieren zu sehr auf Print. Doch nach Änderung des Agenturclaims öffnen sich den Journalisten von Wardour auch die Türen zu den Etagen der Marketingchefs. Mit diesen sprechen sie über die Wirksamkeit von Inhalten und deren guter Messbarkeit. Das Passwort lautet: Content Marketing.

Zündstoff und Champions League

Inhalte und Marketing – wie soll das zusammenpassen? Content Marketing: Ist es nicht genau das, was Corporate Publisher schon immer versprechen? Inhalte binden Kunden an eine Marke, sorgen für Aufmerksamkeit und dafür, dass die Kunden wiederkommen? Content Marketing ist also Corporate Publishing, alter Wein in neuen Schläuchen.

Sicher nicht.

Allein schon, weil der Begriff „Content Marketing“ ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hat: Der US-Journalist John F. Oppendahl, Jahrgang 1944, Herausgeber der Phoenix Newspapers, Arizona, darf sich rühmen, der erste gewesen zu sein, der diesen Begriff verwendete – 1996 in einem Roundtable-Gespräch der American Society for Newspaper Editors. Kurz darauf, 1998, ernennt man beim Internetkonzern Netscape Jerrell Jimerson zum „Director of online and content marketing“, 1999 liefert der Fachautor Jeff Cannon die erste belegte Definition: „In content marketing, content is created to provide consumers with the information they seek“. Content Marketing ist nicht Corporate Publishing. Content Marketing ist mehr.

An diesem Abend in London ist es vor allem Zündstoff für hitzige Diskussionen. Es ist der 25. April 2012, der Abend, an dem für den FC Chelsea ein 2:2 gegen den FC Barcelona reicht, um ins Finale der Champions League einzuziehen. In einer Londoner Sportsbar wird Chelsea frenetisch gefeiert; die VDZ-Gruppe hat das Spiel verfolgt. Und diskutiert gleichzeitig, in dieser aufgeheizten Stimmung, über Content Marketing. Viele stemmen sich gegen den für sie neuen Begriff. Sie erkennen nicht, dass die Umwälzung der Branche schon längst eingeleitet worden ist.

Einstimmig für den Aufbruch

Die Veränderungen beginnen 2010 – nicht gerade mit einem Big Bang. Manfred Hasenbeck, Übervater des Corporate Publishing, tritt nach mehr als einem Jahrzehnt als Präsident des Forum Corporate Publishing (FCP) ab. Er leitet einen radikalen Generationswechsel ein, schwärmt nach Vollzug von „jungen Machern“, die im FCP das Ruder übernommen hätten.

Die „Macher“ sind in London dabei, sie zählen später zu den Vorreitern im Content Marketing. Nicht zu denen, die am lautesten rufen. Aber zu jenen, die am beständigsten für das Gattungsmarketing arbeiten. Andreas Siefke etwa, seinerzeit Chef bei Hofmann & Campe und neuer Präsident des Forums. Auch in der Runde: FCP-Vorstand Ralf Ansorge, sowie Olaf Wolff, Publicis, der wenig später ins Führungsgremium des Verbands berufen wird. Und ich, damals Hasenbecks Nachfolger in der Geschäftsführung der BurdaYukom und Siefkes neuer Vize im Verband. Wer will, kann das Quartett an der Bar als Omen sehen – Marketing (Siefke, Wolff) und Journalismus (Ansorge, Fill) finden zusammen.

Die FCP-Vorstände treffen sich bis zu sechsmal im Jahr, acht Stunden und länger wird getagt – so bestimmen wir die Marschroute des Verbands. Und schließlich den Aufbruch: Einstimmig wird die Umbenennung in Content Marketing Forum beschlossen;  die Mitglieder sollen schnell auf der Hauptversammlung im Juni 2012 informiert und überzeugt werden. Doch es kommt anders. Irgendwer steckt die Info einem Mediendienst. Dieser, die Aufmerksamkeit witternd, ruft mit einer Umfrage zur Abstimmung „CP oder CM?“ auf.

Nur mit knapper Mehrheit

Die Debatte ist entfacht. Manche halten CP für größer als Content Marketing, beharren auf der journalistischen Tradition, haben Angst um ihre Identität, wollen mit Marketing nichts zu tun haben. Andere erkennen die Zeichen der Zeit: Inhalte, auch von  hoher journalistischer Qualität, werden künftig auf ihre Wirkung abgeklopft, entlang der kompletten Kundenreise. Die Kennzahlen, die zu erfüllen sind, reichen von Imagewerten bis zum harten Abverkauf.
Das sind Marketing-Kennzahlen.
Die Abstimmung geht knapp aus, mit nur zwei Prozent mehr zu Gunsten der Content-Marketeers. Die Zahlen sind längst von der Website des Mediendiensts verschwunden, erinnern will sich an die Aufregung niemand mehr gerne.

Die Wirkung der Umfrage ist fatal: Sie kostet die Agenturen des Corporate Publishing fast drei Jahre. Wertvolle Jahre. Anstelle eines Urknalls des Content Marketing tritt ein – nicht nur von mir als quälend langsam empfundener – Positionierungsprozess der Corporate-Publishing-Agenturen. Es gibt vier Workshops an vier Standorten, um möglichst viele Mitglieder zu erreichen. Am Ende steht fest, wofür die Content-Agenturen stehen, wohin sie wollen.

Ralf Ansorge kämpft für Content Marketing. Er ist schon länger als ich im Vorstand – sein großer Arbeitskreis vertritt die besonderen Belange der inhabergeführten Agenturen. Eine wohltuende Position gegenüber den großen Verlagstöchtern und Agenturnetzwerken. In dieser Zeit lerne ich Ralf richtig kennen, als unaufgeregten, bestimmten und oft weiter als andere blickenden Kollegen – und als Freund. Mehr als einmal legen wir seinen Arbeitskreis mit meinem zusammen, dem „AK Digitale Medien“, um gemeinsam zu argumentieren, die Durchschlagskraft zu erhöhen und die Mitglieder zu überzeugen.

Die Magie des Neuen

Im Rückspiegel scheint es, als werden wir rechts überholt, während wir zähe Überzeugungsarbeit an der Basis leisten. Content Marketing ist nicht mehr nur ein Fachbegriff, es wird zu einer weltweiten Bewegung. Das Content Marketing Institute etwa startet mit der Content Marketing World durch, bald kommen dreitausend und mehr Besucher aus aller Herren Länder ins verschlafene Cleveland, machen es zum Mittelpunkt der Branche. Der Best of Corporate Publishing Congress & Award, einst einsamer Leuchtturm weit und breit, bekommt auch im deutschsprachigen Raum ehrgeizige Marktbegleiter: die CMCx setzt mit Erfolg auf Technologie und staubt Besucher der Internet World ab; die Content World der Handelsblatt Gruppe landet zumindest Achtungserfolge. Kaum ein Weiterbildungsanbieter, kaum eine Medienhochschule, die nicht Tageskurse, Seminare und Studiengänge zu Content Marketing ins Angebot nehmen.

Verbandspräsident Siefke untermauert in einem Interview die Kompetenz der inhaltsgetriebenen Agenturen: „Keiner kann Content Marketing besser als die CPler.“ Thomas Mickeleit, Kommunikationschef von Microsoft, hält dagegen, dass Content Marketing unter falscher Flagge segle und in die PR gehöre. Der Werber Amir Kasei wütet, um sein Terrain zu verteidigen: „Content Marketing ist Bullshit.“

Aber da stehen auf den Bühnen schon neue Stars und solche, die es werden möchten. Ehemalige Wirtschafts- und IT-Journalisten machen sich mit Büchern über Content Strategien einen Namen; Technologen und Softwareentwickler schlagen in die gleiche Kerbe, verknüpfen Strategie, Programmierung und Publishing. Juniors aller Funktionen deklarieren Content Marketing fälschlicherweise, aber mit großem Echo, als junge Disziplin und Buzzword. Und so mancher schürt unbeirrt, bis heute, die Angst vor dem Content-Schock. Fachmedien springen auf den Trend auf, auch Werbe- und PR-Verbände. Sie alle müssen sich um keine Erblasten kümmern, wenden sich schnell der Magie des Neuen zu: Content Marketing.

Am 18. Juni 2015 benennt sich das Forum Corporate Publishing, die Keimzelle der neuen Mediengattung, in Content Marketing Forum um. Endlich.
„Die Umbenennung ist eine Konsequenz aus der Marktentwicklung“, stellt Siefke folgerichtig fest. „Content Marketing hat sich zum festen Branchen- und Gattungsbegriff entwickelt.” Zu diesem Zeitpunkt führen bereits 75 Prozent der im Verband organisierten Agenturen „Content Marketing“ auf ihrer Website an.

Die Profilwerkstatt war eine der ersten.