Wer erschoss Liberty Valence?

Amerikas neuere Geschichte ist auf Lügen erbaut.

Dieser Satz ist heute, 2017, eine Binse – in einer Zeit, in der ein narzisstischer, notorisch die Wahrheit beugender Bauunternehmer Präsident der USA werden kann. John Fords Western „The Man who shot Liberty Valance“ demaskierte allerdings bereits 1963 die Romantik in der Geschichte der USA. Er zeigt die wahren Hintergründe von Macht, wirtschaftlichem Einfluss und Politik – und spart die Rolle der Medien nicht aus.

„When the legend becomes fact, print the legend!”, sagt ein Journalist, dem der erfolgreiche Politiker Ransom Stoddard (James Stewart) die wahren Hintergründe über den Tod des Schurken Liberty Valence (Lee Marvin), enthüllt. Zwar stellt sich Stoddard mutig gegen den Menschenverächter und gefürchteten Banditen Valence, der ein Städtchen und seine Umgebung terrorisiert. Doch der juristische Kampf scheitert kläglich an der Gewalt.

Erst die Kugel von Stoddards Freund Tim Doniphan (John Wayne), abgefeuert aus dem Hinterhalt, beendet den Schrecken. Stoddard indes wird von da an gefeiert als „Der Mann, der Liberty Valence erschoss“. Er klärt den Irrtum nicht auf, wird Bürgermeister, schließlich Senator und steht nun vor der Krönung seiner politischen Karriere – dem Amt des Vizepräsidenten.

Der Journalist aber, Herausgeber des Lokalblättchens, der dies alles in Rückblenden erfährt, verbrennt seine Notizen, um die Legende zu bewahren.

Die Verpflichtung der vierten Gewalt

Niemand hat John Fords Schreiberling gekauft, schon gar nicht stellt er sein Handwerk freiwillig in die Dienste eines Unternehmens, das würde er vielleicht ein, zwei Jahrzehnte später mit dem Entstehen der Ölmagnaten tun. Und doch symbolisiert er den scheinbar unlösbaren Zwiespalt zwischen Wahrheit schreiben und Wahrheit verbergen, wenn´s denn guten, höheren Interessen dient.

Sein Satz wird zu einem der berühmtesten der Filmgeschichte: „When the legend becomes fact, print the legend!”

Das ist Storytelling in Reinform. Die richtige Geschichte zur richtigen Zeit den richtigen Leuten erzählen. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Fords Filmerzählung haben wir mehr Journalisten in Unternehmen, PR und Agenturen als in unabhängigen Medien. Konzerne setzen mit hauseigenen Journalisten auf Storytelling für Leser, werden so zu Marken. Marken werden zu Medienhäusern. Medienhäuser, die werden, nun ja, zu Kaufhäusern und E-Commerce-Plattformen. Es sei denn, sie verschreiben sich dem unabhängigen, kritischen Journalismus. Von dort erklingt stets das Klagelied von der Krise, von der mangelnden Bereitschaft der Leser, für gute Inhalte zu zahlen, und von dem Zwang, neue Geschäftsmodelle zu erschließen.

Trump, Le Pen, Erdogan, Orbán und all die anderen falschen Demokraten haben in kurzer Zeit gezeigt, wie wichtig die Existenz der vierten Gewalt ist, die „Publikative“, die neben der Exekutive, Legislative und Judikative durch Berichterstattung und öffentliche Diskussion das politische Geschehen beeinflussen kann. Medien besitzen die Macht, Politik und Wirtschaft zu kontrollieren und Machtmissbrauch zu ahnden.

Die Angehörigen der vierten Gewalt besitzen nicht nur die Macht. Sie besitzen die Verpflichtung dazu. Ein Journalist bleibt Journalist, auch wenn er auf die andere Seite des Schreibtischs wechselt. Wenn er für Unternehmen arbeitet, schreibt er dennoch für den Leser. Oder in Agenturen, etwa im Content Marketing. Klassische Werbung, wie aus alten Tagen bekannt, ist das nicht.

Mit der Macht kommt die Verantwortung

Die Entwicklung, dass Unternehmen heutzutage mehr Medien, auch digitale Medien, veröffentlichen als die Publisher, wird sich nicht umkehren. Zur wirtschaftlichen Macht eines Unternehmens kommt damit auch mediale Macht. Je mehr Unternehmen sich helfen lassen, selbst Medien für ihre Kunden zu erstellen, von Verlagen und Agenturen, in denen Experten sitzen, die wissen, wie man mit Worten und Bildern umgeht, umso wichtiger wird es, mit der Macht verantwortungsvoll umzugehen. Unternehmen müssen ihre Werte leben, Haltung zeigen, Halt geben, bei der Einordnung helfen. Diese Verpflichtung ist auf die Kommunikatoren in Konzern und Content Marketing Agenturen übergegangen.

Haltung beweist man am leichtesten dann, wenn Klarheit herrscht. Deswegen ist es wichtig, das als Journalismus-Killer angeprangerte Content Marketing einzuordnen: „Content Marketing ist die Disziplin im Marketing, die mit redaktionellen Inhalten strategische Unternehmensziele vorantreibt. Diese Inhalte entfalten auf allen eingesetzten Kanälen eine messbare Wirkung.“

So hat es das Content Marketing Forum erarbeitet und damit selbst mehr Haltung eingenommen als eine theoretische Vorschrift geschaffen. Diese Haltung schließt keine Marktbegleiter aus; im Gegenteil, sie ist offen und jeder – aus Werbung, Verlag, Journalismus, PR oder sogar als technischer Dienstleister – kann sie sich zu eigen machen. Und sie rückt redaktionelle Inhalte in den Mittelpunkt, mit journalistischen Grundsätzen erstellt.

Content Marketing, Liebe und Prostitution

Deswegen ist jene Diskussion überflüssig, schädlich sogar, die Journalismus gegen Content Marketing stellt. Die Content Marketing für den scheinbaren Niedergang des Journalismus verantwortlich macht. Die Aggressivität, mit der diese Debatte nicht nur in Facebook, Twitter, in Newslettern oder in Blog-Artikeln geführt wird, macht manchmal sprachlos. „Journalismus verhalte sich zu Content Marketing wie Liebe zu Prostitution“, so der Tweet, der vor ein paar Wochen wenig Herzchen, aber einige Antworten provozierte. Mich selbst hat er betroffen gemacht – ich sehe mich nicht als Mediennutte, denn ich bin mein Berufsleben lang meinen journalistischen Werten treu geblieben. Wie jene aus dem Journalismus stammenden Unternehmens- und Agenturkollegen, die ich über meine Arbeit in der Branche kennen lernen durfte. Dennoch fiel es schwer, den Tweet als unreflektierte Äußerung – im Übrigen eines Geschäftsführers einer PR-Agentur – einzustufen. Ignorieren wollte ich ihn nicht.

Die Branche, bestehend aus Unternehmen und ihren Marketingabteilungen, Verlagen, Verbänden und den Agenturen gleich welcher Disziplin, steht vor einer neuen Aufgabe. Es geht nicht darum, Journalismus von Content Marketing zu separieren, sondern darum, zu zeigen, wie guter, verantwortungsbewusster Journalismus in einer inhaltsgetriebenen Disziplin des Marketing funktioniert. Niemand sagt, dass das leicht ist – wahrscheinlich gilt auch hier, dass der Weg das Ziel ist. Wir müssen stets dafür Sorge tragen, dass auch die Content-Marketing-Branche dem Leser Halt und Haltung gibt. Das beginnt mit Authentizität. Aus Authentizität wächst Haltung. Aus Haltung wächst Resonanz – was sich jeder von seinen Inhalten wünscht.

Dass die Öffentlichkeit nicht erfahren soll, wer Liberty Valence wirklich erschoss, führt bei Ransom Stoddard übrigens zum Umdenken: Er hängt seine politische Karriere an den Nagel und kehrt in das Städtchen zurück, um dort als Anwalt die einfachen Leute zu vertreten. Immerhin.

Der Autor:
Christian Fill ist geschäftsführender Gesellschafter der Profilwerkstatt und leidenschaftlicher Journalist. Der promovierte Ingenieur besitzt langjährige Erfahrung als Chefredakteur, Verlagsleiter und Geschäftsführer bei großen Medienhäusern. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Content Marketing Forum, Europas größtem Verband für Content Marketing.
Dieser Beitrag erschien als Vorabdruck in CP Monitor, Ausgabe Juni 2017.