Buddy Müller #folge12 #geisteraustreibung

München braucht keinen Hackerangriff. München hat den Münchner Verkehrsverbund. Der legt ganz München lahm.

Kein Tag vergeht, an dem der „Streckenagent“ nicht per Twitter oder Mail meldet, dass sich Kurzschlüsse in Steuerungskästen oder Gegenstände auf Gleisen befinden. Manchmal auch Personen.

Aber die bleiben dort nicht lang, nur ein paar Stunden. Also so lange, bis der schwarze Kombi kommt.

Auch unsere Agentur braucht keine Hackerangriffe. Dafür haben wir unsere Agentursoftware. Wenn´s drauf ankommt, legt sie schon mal den ganzen Laden lahm.

Das hat damit zu tun, dass die Software schon so furchtbar alt ist.

„Oder einfach nur alt aussieht“, sagte Brad MacCloud vom Clan der MacClouds.

„Oder einfach nur den Benutzer alt aussehen lässt“, gab ich meinem MacBook Air zurück, mit dem ich seit geraumer Zeit in einer wunderbaren Mensch-IT-Symbiose lebe (siehe #folge5 #monmacàmoi).

„Wenn eine Software schon Ghost heißt“, sagte Brad.

In der Tat, der Name unserer Agentursoftware legte nahe, dass sie von einem engen Freund von Untoten programmiert worden war. Nicht nur die Benutzeroberfläche sah danach aus. Das Aufrufen des Terminal-Clients kam einem endlos langen Abstieg in die Gruft gleich – ungefähr in die Zeit, in der IBM noch Hardware herstellte und Thin-Clients als den letzten Schrei der Informationstechnologie pries. Was vor dem Zusammenbruch der New Economy war.

Mitdenken ist Kundenpflicht

Dennoch hielten viele bei uns an „Ghost“ fest; geschlossen waren die Reihen der Fans in allen Abteilungen. Sogar manche Teamleads zählten zu den Freunden der umständlichen und gefühlt jahrzehntelang geübten Prozesse. Bereitwillig akzeptierten die Kollegen, dass die Lizenzzahl weit unter der tatsächlichen Nutzerzahl lag – „Kann mich jemand in Ghost lassen?“, geisterte täglich mehrmals durch die Agentur. Ohne Klage nahmen die Kollegen auch hin, dass sich die Bildschirmauflösung beim Aufruf von Ghost unkontrolliert umstellte, mal kleiner, mal größer. Spielfreudige Kollegen wetteten auf die randomisierten Einstellungen halbe Monatslöhne.

Wetten ist eben Agentursport. So wie Duldsamkeit zum Agenturleben gehört. „Vier Wochen Erstellungszeit für ein Angebot ist doch nicht lang“, pflegte Qwertz, mein Lieblings-Teamlead, zu sagen. „Und ein bisschen Mitdenken bei unserer Leistungsbeschreibung, das ist doch vom Kunden nicht zu viel verlangt?“.

Meistens empfahl ich ihm, sein Mitdenken vom Bedienen der Software auf das schnellere Erstellen der Angebote zu lenken. Leider ohne Erfolg.

„Das ist High-Tech“, sagte Qwertz, „das braucht Geduld und Übung und einen echten Brain vor dem Rechner.“

Vergeblich sah ich mich um, wen er meinen könnte.

Morgenmeeting mit Überraschungen

Doch dann, wir saßen gemütlich bei unserem montäglichen Agency Weekly, verschanzten uns hinter unseren Bildschirmen, schlürften dreifach fermentierten, handgemahlenen Arabica aus unserer Siebträgermaschine (siehe #folge3 #1,3,7-Trimethyl-2,6-purindion) und hofften, dass der EmmDee seine Montags-Motivations-Rede kürzer als sonst halten würde.

Qwertz und ich saßen nebeneinander und zwinkerten uns zu.

Tatsächlich vermied der EmmDee jeden Umweg über die global-galaktische Bedeutung von Content Marketing und kam gleich auf den Punkt. „Wir müssen schneller werden“, sagte er. „Wir brauchen eine neue Agentursoftware.“

„Hurra!“, rief ich.

„Hurra!“, rief Brad.

Ihn konnte ja niemand hören. Im Unterschied zu meinem Jubel, der lauter geraten war als beabsichtigt. Geschätzte 100 Augenpaare starrten mich an.

„Müller, Danke für Ihren wertvollen Beitrag“, sagte der EmmDee und holte sich die Aufmerksamkeit zurück. Die Zeit von „Ghost“ sei nun gekommen, dies zeige sich nicht nur an der Freude, die ein Wechsel bei manchen Kollegen auslöse (wieder durchbohrten mich 100 Blicke), sondern vor allem daran, dass die Prozesse zu sehr eingespielt seien, dass alle Gewerke nun sturen Routinen für Kalkulation, Angebotserstellung, Stundenerfassung und Abrechnung folgten. Es gäbe, so der EmmDee weiter, sogar liebevoll gestaltete Manuals, die es ermöglichten, dass unsere Neuzugänge innerhalb von 12 Wochen die Software beherrschten.

„Früher dauerte es zwei Monate“, raunte Brad.

Nein ist die richtige Einstellung

„Disruption“, forderte der EmmDee lautstark, „Disruption ist notwendig, um uns wieder wachzurütteln!“

Für Qwertz und mich war dies das Zeichen. Qwertz schnippte seinen Kaffeelöffel nach rechts, ich meinen Mont-Blanc-Füller nach links, und beide tauchten wir gleichzeitig unter den Tisch ab, als würden wir die Gegenstände suchen.

Während über uns der EmmDee nach Freiwilligen fragte, die die Einführung einer neuen, bahnbrechenden Agentursoftware begleiten sollten.

„Nein“, hörten wir Dr. No sagen. „Neinneinnein.“

Qwertz und ich konnten beobachten, wie die Kollegen rechts und links von der Assistentin des EmmDee abrückten.

„Danke, Dr. No“, sagte der EmmDee, „Sie haben die richtige Einstellung. Sie werden die Testphase durchführen.“

Raunen im Raum. Dann Stille.

Qwertz und ich lugten über die Tischplatte.

Wir hatten schon mal bessere Ideen.

„Müller und Qwertz!“, begrüßte der EmmDee unser Auftauchen. „Management und Kreativität in seltener Einigkeit. Das muss man nutzen. Sie schreiben das Lastenheft!“

„Die ich rief, die Geister“, sagte Brad, „werd´ ich nun nicht los.“

Zehn Schritte zur Seligkeit

Qwertz und ich bildeten noch am selben Tag die Taskforce „Geisteraustreibung“. Nur drei Tage brauchten wir für einen Musterworkflow. In dieser Zeit hatten wir unsere Telefone auf eine Dauerwarteschleife umgestellt, in der „Ghostbusters“ lief.

Unser Workflow enthielt alle wesentlichen Arbeitsschritte zum Erstellen eines Angebots:

• Der Projektmanager kalkuliert vorsichtig mit geschätzten Stundenaufwänden, die vorauseilend 10 Prozent niedriger sind als die Erwartungen des Kundeneinkaufs.

• Der EmmDee schraubt die Stunden wieder hoch, drückt aber die in der Software fixierten Stundensätze „ausnahmsweise“ um fünf Prozent nach unten.

• Zur Sicherheit streicht der EmmDee die Ramp-up-Phase.

• Der Digital-Chef will den Auftrag wegen der Außenwirkung unbedingt. Er zieht fünf Prozent Willkommensrabatt ab.

• Zur Sicherheit packt der Digital-Chef 40 Prozent bei den externen Design- und Programmierkosten wieder drauf.

• Hier gibt es eine Entscheidungsweiche – ersetze „Digital-Chef“ durch „Client Director“, „Creative Director“, „Chefredaktion“ und variiere die Prozentsätze in Fünfer-Sprüngen!

• Das Angebot bleibt in der digitalen Reifekammer, sprich irgendwo auf dem Server. Weiterleitung nicht unter drei Arbeitstagen.

• Das Controlling schließlich hebt die Stundensätze wieder auf die ursprünglichen Werte, korrigiert um den Gemeinkostenfaktor und Servicefee und leitet zurück an den Projektmanager, mit der Empfehlung, die Stunden bei Redaktion und Grafik, insbesondere bei der Art Direktion kritisch zu hinterfragen. Was einer Reduktion um 10 Prozent entspricht.

• Dieser Angebotserstellungszyklus wird dreimal wiederholt.

• Das Angebot geht erst an den Kunden, wenn dieser zweimal danach gefragt hat.

„Was machen wir mit der Ressourcenplanung?“, fragte Qwertz.

„Die ist überflüssig“, kommentierte Brad MacCloud unhörbar. „Erstens sind eh nie genug Leute da, und zweitens dauert ein Job immer so lange, wie man sich dafür Zeit nimmt.“

„Die lassen wir weg“, sagte ich zu Qwertz.

Qwertz nickte. „Dr. No und unser Workflow. Härter geht’s nicht.“

Mensch gegen Maschine

Die Spiele konnten beginnen. Manche hätten es tatsächlich als Computerspiel gesehen, als ein World of Warcraft mit betriebswirtschaftlicher Standardsoftware.

Für Dr. No aber war es Ernst. Bitterer Ernst.

Dr. No führte zuerst die Infanterie ins Feld, die Angebotserstellung eines schmalen Print-Newsletters, einer Case Study und eines Web-Teasers. Dann fuhr sie leichte Geschütze auf: ein schmales Kundenmagazin, einen Website-Relaunch, einen Kurzfilm; gefolgt von der schweren Artillerie, nämlich Executive-Magazine, Themenhubs und Bücher unterschiedlicher Umfänge, Veredelungen und Vertriebskanäle.

Sollte die zu testende Software immer noch keine Schwächen zeigen, kam es zum Einsatz der finalen Luft-Boden-Rakete: das Durchrechnen einer kompletten, crossmedialen Content-Marketing-Strategie mit Audit, Kanalempfehlung und -auswahl sowie Inhalteerstellung und Wirkungsmessung.

So führte Dr. No den ewigen Kampf, Mensch gegen Maschine, Dr. No gegen den Ghost-Nachfolger.

Gegen den ersten Nachfolger.

Gegen den zweiten Nachfolger.

Gegen den dritten.

Und gegen den vierten.

Es verging kein Agency Weekly, in dem wir nicht hofften, dass endlich grünes Licht für die Ablöse von Ghost und den Start einer neuen Software gegeben würde. Doch Dr. Nos Fazit war nach jedem abgeschlossenen Zyklus stets das gleiche: verheerend.

Der EmmDee, nein, wir alle rätselten.

„Irgendwas ist immer“, pflegte Dr. No zu sagen. „Nein“, urteilte sie regelmäßig, „die Software entspricht nicht unseren Erwartungen.“

Und wandte sich dem fünften Nachfolger zu.

Und dem sechsten.

Wir sind dennoch zuversichtlich, dass bald eine neue Agentursoftware eingeführt wird.

Zumindest vor Fertigstellung des Berliner Flughafens.

„Oder bis der Münchner Verkehrsverbund eine Woche störungsfrei läuft“, sagte Brad.

Man wird ja noch hoffen dürfen.

Sie haben auch schon mal eine alte Agentursoftware abgelöst? Sie glauben trotzdem noch an „Business runs on IT“? Weinen Sie sich bei Buddy Müller aus – unter buddy.mueller@profilwerkstatt.de
Alle bisherigen Folgen von Buddy Müller finden Sie auf www.profilwerkstatt.de.

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