Buddy Müller

#1,3,7-Trimethyl-2,6-purindion

Wer will einen Mann weinen sehen?
Niemand. Schon gar nicht Dr. No.
Dr. No war die Assistentin unseres Geschäftsführers. Ihren Spitznamen hatte sie von ihrer Lieblingsantwort auf alle Fragen, die ihr im Agenturalltag gestellt wurden: „Nein.“

Dass Dr. No uns Kaffee brachte, grenzte an ein Wunder. Oder es war meiner Fragetechnik geschuldet. Denn ich wollte von ihr wissen, ob sie interessiert daran sei, zu erfahren, wie viel Arbeitslosengeld ihr zustünde, wenn nicht innerhalb von fünf Minuten frischer Kaffee auf dem Designerkonferenztisch stehen würde.

„Nein“, sagte sie und zischte davon in Richtung unserer Siebträger­maschine im Wert eines Kleinwagens. Fünf Minuten später stand der Kaffee vor uns. Wir, das waren der Marketingchef des Weltmarktführers für Horizontalspülbohrmaschinen, einer unserer treuesten Kunden, und ich, Buddy Müller, Senior Project Supervisor in der weltweit führendsten Content-Marketing-Agentur Deutschlands. Dampf stieg auf aus großen, bunten Tassen.

Stille.

Unser Kunde – sonst so smart – flüsterte: „Dass ich das noch erleben darf. “Ein feuchter Glanz überzog seine Augen, zwei silbrige Perlen bildeten sich in den Winkeln, und noch bevor diese über die Wangen rollen konnten, war Dr. No weg. Niemand will einen Mann weinen sehen.

Tränen in der Tasse

Dezent schob ich die ursprünglich geplante Angebotspräsentation beiseite und ein Päckchen Tempo über den Tisch. Zu spät. Die Tränen tropften in die Kaffeetasse.

„Entschuldigen Sie “, begann der Marketingchef zu erzählen, nachdem er sich die Augen trockengetupft hatte, „aber heutzutage noch bunte Tassen … das ist wie ein Stückchen Zuhause.“

Als gründergeführtes Unternehmen habe man eine gewachsene Kultur, berichtete er, als Spitzentechnologiehersteller sicher etwas technokratisch, doch die Ingenieure würden für ihre Horizontalspülbohrmaschinen leben und sterben, die Firma sei ihrer aller Familie, ihr Leben. Viel Kreativität fließe in die Maschinen, in die Getriebe, in die Steuerung, erzählte der Marketingchef, viel Individuelles ziere den Schreibtisch, dort stünden Familienfotos, Glücksbringer, Ü-Ei-Konstruktionen, Buddha-Miniaturen und andere Mitbringsel von Geschäftsreisen. Sogar ein Eiffelturm, die Bronzeausführung, versteht sich.

„Bis vor kurzem auch Kaffeetassen. Jeder hatte seine eigene“, seufzte der Marketingchef. Es habe Tassen mit sinnfrohen Aufdrucken gegeben wie „Stay calm and be an engineer“ oder „Engineers do it better“. Intellektuellere Zeitgenossen griffen zu Tassen mit „An opinion without pi is just an onion“ oder mit der Strukturformel für 1,3,7-Trimethyl-3,7-dihydro-1H-purin-2,6-dion, auch Koffein genannt.

Es gab Tassen mit Reisemotiven (München, Hamburg, New York, aber auch Münster oder Bielefeld), Fußballvereinen (FCB, Dortmund, Barcelona, aber auch Darmstadt oder Hannover), prohibitive Ansagen („Sprich leise. Das ist mein erster Kaffee.“) oder Werbegeschenke, etwa „Schrauben Mann. Alles dran“. Ausgefallen sei die Idee einer PR-Agentur gewesen, Ingenieure mit einem auf der Tasse aufgedruckten Krimi zum Lesen zu bewegen. Die Auflösung war auf dem Tassengrund zu finden.

„Uns ist alles genommen worden“, flüsterte der Marketingchef.

Einfach nur zuhören.

Eine schnelle Eingreiftruppe von Beratern sei in die Firma eingefallen, auf Geheiß des Senior-Chefs, der plötzlich in allen Meetings eine 100-seitige Powerpoint-Präsentation mit sich führte – „10 Musts to Survive Disruption in the German Mittelstand“.

„Ein Must war die Clean Desk Policy“, sagte unser Kunde. Ein „Must“ war übrigens auch ein Dienstleister-Review.  Diesen führte unser Auftraggeber ohnehin alle zwei Jahre mit uns durch, musste aber nun, auf Wunsch der Berater, mit uns nochmal eine Schleife drehen. „Zehn Prozent weniger sind immer drin“, war der Start in die Verhandlung mit uns. Am Ende senkte der Review unsere Rendite endgültig auf Null – was dazu führte, dass der Londoner Vorstand unseres Agenturnetzwerks zu fragen begann, ob wir uns diesen Kunden noch leisten konnten. Doch diese Frage stellte sich mir jetzt nicht. Jetzt musste ich einfach nur zuhören.

„So schweißen wir die Firma wieder zusammen“, habe der Senior-Chef schwadroniert, ein aufgeräumter Schreibtisch solle die Kollegen auch innerlich reinigen und stark für Zeiten des Umbruchs machen. Von einem Tag auf den anderen sei alles Individuelle von den Schreibtischen verschwunden – auch die Kaffeetassen. Was zu langen Schlangen vor der Kaffeemaschine und zu langen Gesichtern bei den seelisch gesäuberten, aber müden Mitarbeitern führte. „Niemand hatte daran gedacht, dass wir auch neue Tassen brauchen würden.“

Der Senior-Chef delegierte die wichtige strategische Aufgabe, neue Kaffee-Keramik zu ordern, an den Finanzchef (weil der Junior-Chef dafür noch nicht reif genug war). Der Finanzchef delegierte an seine rechte Hand, den Head of Finance and IT. Der wiederum delegierte an seinen Trainee, er solle schließlich was lernen, der sich hilfesuchend an die Assistentin wandte. Und diese wählte, wie pragmatisch, eine Tassenform bei einer schwedischen Möbelkette. Värdera.

Fünf Präsentationen, fünf Tassen

Die Tasse fiel mit Pauken und Trompeten beim Senior-Chef durch.

Nicht, weil sie zu rund, zu schlicht, zu weiß, zu hoch gewesen war oder weil ihr Name wie ein Wikingerschlachtruf klang. Sondern weil er eine begründete Entscheidung verlangte. Er forderte Vergleichsangebote mit Preisen und Stückzahlen, schön übersichtlich in Excel und Powerpoint aufbereitet. Mit Kosten- und Gegenrechnung der Einsparung gegenüber privaten Tassen unter Berücksichtigung der Faktoren Bruchsicherheit, Standzeit, Volumenreduzierung und Erhöhung der Spülmaschinenruheintervalle.

„Dann ging alles von vorne los“, erinnerte sich der Marketingchef. Der Senior-Chef delegierte an den Finanzchef. Dieser delegierte an den Head of Finance and IT. Der delegierte an den Trainee, der sich Unterstützung von der Assistentin holte. Und die wiederum suchte Hilfe bei anderen Assistentinnen aus Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Registratur. Zu fünft machten sie sich an die Entscheidungsvorlagen. Fünf Vorlagen mit fünf Kalkulationen für fünf Tassen.

Fünf kaffeelose Wochen später sei endlich weißer Rauch aufgestiegen. In mir machte sich Erleichterung breit. Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Denn bei dem Horizontalspülbohrmaschinenhersteller waren alle Kaffeemaschinen abgeraucht, weil sie zu lange außer Betrieb gewesen waren.

Dann endlich. Värdera! Värdera! Värderahhh!, schallte es durch die Gänge und Werkhallen. Die Geschäftsleitung hatte in einer mehrstündigen Sitzung unter Abwägung sämtlicher betriebswirtschaftlicher und ästhetischer Argumente die Entscheidung für eine neue Kaffeetasse getroffen.

Im Koffeinrausch

Mitarbeiter veranstalteten spontan Tasseneinweihungspartys. Abteilungsleiter gaben dafür ihren Mannschaften einen Tag frei. Andere erlaubten Doppelschichten, um den Kollegen mehr Genuss des schwarzen Goldes zu ermöglichen. Tassenweise haben sich die Kollegen den Kaffee reingezogen, so der Marketingchef, firmenweit, Arabica, Robusta, Liberica, egal, Hauptsache Kaffee. Der floss aus neuen Kaffeemaschinen, deren Anschaffungspreis ebenso wenig in die Tassengesamtkalkulation eingegangen war wie die Behandlung von fünf Koffeinschocks und drei Herzinfarkten.

An diesem Nachmittag kam mein Gutmenschen-Gen endlich einmal voll zum Tragen. Unser Kunde und ich tranken noch sieben große Tassen heißen Kaffees. Zum Schluss bot er mir das „Du“ an, und ich gab ihm – neben unserem Angebot  – noch eine unserer Logotassen mit.

„Aber nur für zu Hause“, sagte er und hatte wieder eine Träne der Rührung im Augenwinkel. Dr. No brachte ihn nach draußen. Sie schaute ihn nicht an. Niemand will einen Mann weinen sehen.

Nur wenige Wochen später mussten wir uns dann von unserem Kunden trennen. Der Londoner Vorstand unseres Agenturnetzwerks hatte nach einem erneuten zweisekundenlangen Blick auf Budget und Projekt­rendite (Nullkommanull) doch entschieden, dass wir uns den Horizontalspülbohrmaschinenhersteller als Kunden künftig nicht mehr würden leisten können. Gerüchten zufolge soll unser Vorstand die Contenance verloren haben und sich very unbritisch zu einer harschen Bemerkung hinreißen lassen: „Die haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank.“

Jedenfalls nicht mehr die bunten.

Über Fotos origineller Gefäße für Koffein- oder Teein-Genuss freut sich Buddy Müller unter buddy.mueller@profilwerkstatt.de

Seine Lieblingstassen sammelt er unter de.pinterest.com/buddymueller

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